Acht Jahre bleiben Deutschland, um das erste Teilziel auf dem Weg zur Klimaneutralität zu erreichen. Nur 20 Jahre später soll die Vision einer vollständigen Dekarbonisierung Wirklichkeit sein. Gelingen kann dies nur durch eine konsequente und vor allem zügige Verkehrswende zugunsten von Wasserstraße und Schiene. Beide Transportmodi haben aus Sicht des Klimaschutzes einen klaren Vorsprung gegenüber der Straße. Die Binnenschifffahrt hat darüber hinaus direkt verfügbare Reservekapazitäten zu bieten. Um das Potenzial der Wasserstraße voll auszuschöpfen, müssen diese Vorteile gestärkt und weiter ausgearbeitet werden. Deutschland braucht ein leistungsfähiges System Wasserstraße. Die Zeit drängt.
Die Binnenschifffahrt von heute im Vergleich
Die Rolle, die der Binnenschifffahrt beim Erreichen der Klimaziele zukommen kann, ist seit Jahren politisch anerkannt. Nicht nur die Bundesregierung, auch der Green Deal zählt auf die Verlagerung von Verkehren auf die Wasserstraßen, um die Klimaziele der EU erreichen zu können. Die Umsetzung ist allerdings ausbaufähig. Nach früheren Plänen Deutschlands sollte der Anteil der Binnenschifffahrt am Modal Split 2015 bereits bei rund 14 Prozent liegen. Das Ziel wurde deutlich verfehlt. Derzeit liegt der Anteil bei gerade der Hälfte. Immerhin ist die beförderte Gütermenge 2021 wieder um 3,8 Prozent gestiegen, und es gibt Grund zur Hoffnung, dass das Vor-Corona-Niveau in Kürze wieder erreicht werden kann.
Denn das System Wasserstraße hat spezifische Vorteile gegenüber anderen Verkehrsträgern wie Straße, Schiene oder Luft. Der Transportmodus ist sicher, zuverlässig und verfügt über ausreichend freie Kapazitäten, um die steigenden Gütermengen der nächsten Jahrzehnte aufzunehmen. Insbesondere aber kann die Binnenschifffahrt bereits jetzt mit niedrigen Emissionswerten pro Tonnenkilometer punkten. Ein Binnenschiff verursacht gerade einmal ein Viertel der Treibhausgasemissionen, die bei einem Transport per Lkw entstehen. Anders ausgedrückt: 1 Tonne Ladung kommt mit derselben Treibstoffmenge per Lkw 100, per Bahn 300 und per Binnenschiff 370 Kilometer weit. Hinzu kommt, dass ein Binnenschiff große Gütermengen von der Straße holt, im Schnitt rund 150 bis 180 Lkw-Ladungen. Eines der größten Containerschiffe auf dem Rhein ersetzt voll beladen sogar bis zu 500 Lkw. Die Binnenschifffahrt ist daher essenziell, um die steigenden Güterströme nachhaltig bewältigen zu können sowie eine umweltfreundliche und zuverlässige Industrieversorgung zu gewährleisten. Die Chemieindustrie etwa zeigt, dass bei entsprechender Planung bereits heute beinahe die Hälfte aller Verkehre per Schiff abgewickelt werden können.
Innovation nimmt künftige Technologieentwicklung vorweg
Um selbst während Niedrigwasserperioden die Versorgung der Industrie aufrechterhalten zu können, entwickeln Reedereien und Partner spezielle tiefgangoptimierte Schiffe. Die Branche hat aber auch erste Maßnahmen zur Umsetzung der Energiewende eingeleitet. So sind bereits Schiffe mit innovativen Hybridantrieben oder Retrofit-Motoren zur Emissionsminderung im Einsatz. Nullemissionsantriebe wie reine Elektromotoren und Brennstoffzellen befinden sich in der Entwicklung oder werden getestet.
Mit der Aus- und Umrüstung der Binnenschiffsflotte auf emissionsarme Antriebe und alternative Kraftstoffe werden Transporte auf dem System Wasserstraße mittelfristig klimaneutral stattfinden können. Als größtes Binnenschifffahrtsunternehmen Europas ist HGK Shipping nicht nur in der Lage, in die Entwicklung und Umsetzung umweltfreundlicher Antriebe zu investieren. Sie sieht sich hier auch in der Verantwortung, als Innovator voranzugehen – etwa bei Schiffsneubauten, die „H2-ready“ sind. Angesichts der langen Lebensdauer und der hohen Investitionssumme für ein Binnenschiff ist es wichtig, die Technologiestandards und fortschreitenden Innovationsentwicklungen bei der Konstruktion zu berücksichtigen, also beispielsweise den Motorraum so zu konzipieren, dass ein Antriebswechsel möglich ist.
Voraussetzungen zu schaffen ist auch eine gesellschaftliche Aufgabe
Grundlage auf dem Weg zur Umsetzung der Klimaziele ist eine zukunftsweisende Ertüchtigung der Wasserstraßeninfrastruktur. Zahlreiche Programme wie der „Masterplan Binnenschifffahrt“ des BMDV sind ein guter Ansatz. Sie reichen aber in ihrer Wirkung noch nicht aus. Um den Anteil der Binnenschifffahrt am Gesamttransportaufkommen zügig steigern zu können, müssen zeitnah weitere notwendige Voraussetzungen geschaffen werden. An erster Stelle stehen die Infrastruktur-Entwicklung entlang des gesamten Systems Wasserstraße sowie die weitere Digitalisierung, um die Anbindung und Planungsfähigkeit der Binnenschifffahrt im Modal-Mix leichter zugänglich machen zu können. Darüber hinaus sind kleine Reedereien, welche die Binnenschifffahrt prägen, auf eine gezielte Förderung von Innovation und nachhaltigen Konzepten bei der Nachrüstung ihrer Bestandsflotte oder Neubauten angewiesen.
Diese Unterstützung ist eine Investition in die Zukunft: Nur mit einem leistungsfähigen System Wasserstraße und einer klimaneutralen Binnenflotte kann das Ziel der Dekarbonisierung bis 2050 erreicht werden.
Der Autor: Steffen Bauer ist CEO der HGK Shipping GmbH.