Logistikwissen zum Durchstarten

Vom 21. bis 24. Oktober 2021 fand auf der Virtual-Reality-Plattform „Decentraland“ das „Metaverse Festival“ statt – eine viertägige Feier mit Musik, Kultur und Kreativität in der virtuellen sozialen Welt. Neben Musik-Acts aus der ganzen Welt gab es dort auch Spiele, Verkaufsstände, eine VIP-Lounge und vieles mehr.
© Decentraland
Metaverse: Hype oder digitale Revolution?
Von Amelie Bauer

Es war wohl die Angst, „das nächste große Ding“ zu verpassen. Die breit angekündigte Umbenennung des Facebook-Konzerns in Meta Ende Oktober 2021 hat der Tech-Branche quasi über Nacht ein neues Lieblingswort beschert. Das entsprechende Youtube-Video von CEO Mark Zuckerberg zeigt stolze 6,5 Millionen Aufrufe.

Und noch immer ist der Hype um die virtuelle 3-D-Parallelwelt groß, auch wenn diese in ihrer erwarteten Form noch gar nicht existiert. Dennoch könnte der globale Umsatz im Metaversum schon 2024 rund 800 Milliarden US-Dollar betragen, prognostizieren die Experten von Bloomberg Intelligence. Welche Auswirkungen hat diese Entwicklung auf Logistik und E-Commerce?

Kommerz in der 3-D-Parallelwelt

Was es mit Zuckerbergs Vision eines „Metaversums“ konkret auf sich hat, demonstrieren bereits seit Jahren Virtual-Reality-Plattformen wie Decentraland oder Sandbox. Nutzer betreten die browserbasierten „virtuellen Welten“ in der Regel kostenlos mit einem selbst erstellen Avatar. Mit Hilfe von Kryptowährungen können dort auch virtuelle Güter, Dienstleistungen, Land oder Immobilien gekauft werden.

Als Grundbaustein für das Metaversum gilt die Blockchain-Technologie. Welche Summen über jene Plattformen bereits ausgetauscht werden, zeigt unter anderem Modedesigner Philipp Plein, der für ein Metaverse-Grundstück kürzlich 1,4 Millionen Dollar bezahlte. Auch Modemarken wie Adidas, Nike, H&M, Gucci, Prada, Balenciaga oder Louis Vuitton wagen bereits mit virtuellen Stores oder Kleidung den kommerziellen Schritt in die Parallelwelt.

Doch das Metaversum beschränkt sich nicht nur auf das Fashion Marketing. Die Supermarktkette Kaufland hat sich in der erfolgreichen Spielewelt „Animal Crossing“ eine eigene Insel gekauft, auf der Spieler über Nachhaltigkeit im Lebensmittelhandel aufgeklärt werden. DHL Asia hat eine Kooperation mit der Blockchain-Plattform VeChain bekanntgegeben. Und auch der US-Händler Walmart hat seine Marken für den Start im Metaversum schützen lassen, um gegebenenfalls einen weiteren Verkaufskanal zu etablieren.

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Physisch versus digital

Für den zukünftig immer stärker virtuell stattfindenden Konsum halten die Experten der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG verschiedene Szenarien für denkbar (siehe Infokasten). Digitale Güter müssen zwar nicht physisch transportiert werden, doch auch Mischformen seien denkbar. So könnten beispielsweise auch im Metaversum Waren digital bestellt und physisch durch einen Logistiker ausgeliefert werden.

„E-Commerce im Metaversum ist beides: physisch und digital. Im Falle einer umfangreichen Dominanz der digitalen Welt im Alltag erfolgt Konsum vor allem über letzteren Kanal. Der Markt für klassische Logistik, wie wir sie kennen, würde damit immer mehr schwinden“, prognostiziert KPMG. Vorausgesetzt, dass in Zukunft vor allem digitale Güter konsumiert werden.

Mit Blick auf die Logistikbranche sei eine Spaltung in digitale und physische Zulieferer denkbar. Insbesondere fehlende Kenntnisse im digitalen Bereich könnten etablierten Logistikern nun zum Verhängnis werden. „Es ist mehr als ungewiss, inwiefern etablierte Logistikdienstleister, deren Know-how klar im Realen und weniger im Digitalen liegt, in der Lage sind, beide Produktkategorien abzudecken“, so die Experten von KPMG.

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Der Kostenfaktor

Ob die Expansion ins Metaversum erfolgreich ist, hängt am Ende jedoch von verschiedenen Faktoren ab – auch auf finanzieller Ebene. „Die Verknüpfung von realer und digitaler Welt ist aktuell noch sehr kostenintensiv. Demnach ist es wahrscheinlich, dass es etablierte Unternehmen leichter haben werden, im Metaversum Fuß zu fassen“, meint KPMG.

Kleinere Unternehmen und Start-ups könnten hingegen vermehrt in virtuelle Angebote, Produkte und Services einsteigen, die keine physische Auslieferung benötigen. „Aber auch neue B2B-Konzepte wären denkbar, zum Beispiel wenn sich ein Unternehmen als Entwickler von Store-Konzepten für andere Unternehmen positioniert“, so KPMG. So könnten auch weniger digitalaffine Unternehmen eine Metaversum-Strategie entwickeln und umsetzen.

Auch Christoph Schlüter und Katharina Ziolkowski vom Fraunhofer IML sehen im Metaversum die Möglichkeit, Verkaufsprozesse noch stärker in den digitalen Raum zu verlagern. Langfristig könnten so Kosten für physische Verkaufsräume und davon anhängige Infrastrukturen eingespart werden.

Schnelligkeit und Individualität

Trotz aller Strategien und Visionen bleibt die zukünftige Ausrichtung im Metaversum zum jetzigen Zeitpunkt aber noch unklar und schwer vorherzusehen. Unternehmen stehen vor der Herausforderung, die Plattformen anderer Anbieter zu nutzen und sich so in eine Abhängigkeit zu begeben oder gar selbst mit einer eigenen Plattform in den Wettbewerb einzusteigen. „Vermutlich sind es am Ende zwei oder drei große Player, die überleben und das Metaversum dominieren“, vermutet Susanne Arnoldy, Partnerin und verantwortlich für die digitale Transformation im Bereich Advisory bei PwC Deutschland.

Das spielerische Einkaufserlebnis könnte zudem einen starken Anstieg an Lieferungen mit niedrigen Bestellwerten bei gleichzeitig steigenden Kundenansprüchen in puncto Liefergeschwindigkeit mit sich bringen, warnen die Experten von KPMG. Die Folge: Die Margen pro Einkauf würden rapide sinken.

Eine Chance sehen die Fachleute hingegen in der Individualität, die das Metaversum durch die Gestaltung eigener Lebenswelten ermöglicht. Unternehmen könnten Produkte so auf spielerische Art platzieren.

„Das Metaversum gibt mir die Chance, zukünftig mit Kunden ganz anders zu interagieren. Eben über eine reine Virtual-Reality-Möglichkeit, die ich heute noch gar nicht habe“, bestätigt Hellmann-CCO Patrick Oestreich. Eine konkrete Metaversum-Strategie habe das Unternehmen bislang aber noch nicht aufgestellt, man prüfe derzeit mögliche Anwendungsfelder für die Zukunft. Aktuell hält Oestreich die Auswirkungen auf die Logistik jedoch für gering.

Auch Christoph Tripp, Professor für Distributions- und Handelslogistik, macht sich um die Zukunft der Logistiker keine Sorgen. „Für Händler und vor allem Hersteller ergibt sich ein neuer Absatzkanal, der zusätzliche Erlöse verspricht. Es ist nicht damit zu rechnen, dass die im Metaversum erzielten Umsätze zu geringeren Erlösen bei physischen Gütern führen. Insofern bedeutet das Metaversum für Logistiker eher, dass man die Umsatz- und Markenpotenziale sowie die Notwendigkeit einer ,Metaversum-Strategie‘ prüfen sollte“, sagte er kürzlich im DVZ-Gespräch.

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Data Security und Nachhaltigkeit

PwC-Expertin Arnoldy sieht die größten Risiken im Metaversum vor allem bei der Datensicherheit. Das vergangene Jahr hat bereits gezeigt, wie verwundbar Unternehmen und Institutionen über ihre IT-Infrastruktur sind. In der Logistikwirtschaft gab es vermehrt Hackerangriffe. „Data Security wird eine Herausforderung sein und eines der größten Risiken im Bereich Metaversum – neben legalen Herausforderungen und dem Schutze der eigenen Marke“, vermutet Arnoldy.

Aber auch die Frage nach der Nachhaltigkeit stellt die Branche abermals vor Herausforderungen und erhöht den Druck, Lösungen zu finden. „Zur Nutzung der Blockchain wird viel Energie verbraucht, das gilt es zu lösen und zu planen in den nächsten zwei bis drei Jahren, schon allein aus Nachhaltigkeitsgesichtspunkten“, fordert die Expertin.

Transformation der Logistik

Sollte das Metaversum in einer Kombination aus physischem und digitalem Handel tatsächlich an das stetige Wachstum im E-Commerce anknüpfen, steht die Branche vor großen strukturellen Veränderungen. Einerseits müssten die Produktlager weitgehend dezentralisiert und die Logistik auf der letzten Meile effizient ausgebaut werden, um schnelle Lieferungen garantieren zu können. „Als Vorbild wird hierbei der Food-Delivery-Sektor dienen“, meinen die Experten von KPMG. Um den niedrigen Margen pro Einkauf entgegenzuwirken, seien Mindestbestellwerte im Metaversum oder automatisierte Liefermöglichkeiten wie der Einsatz von Drohnen denkbar.

„Das Metaversum mit seiner 3-D-Darstellung wird völlig neue Geschäftsmodelle und Vertriebsmöglichkeiten hervorbringen“, prognostizieren auch Schlüter und Ziolkowski. Denkbar seien der Verkauf von Kopien spezieller 3-D-Modelle für den eigenen digitalen Raum, neue Darstellungsweisen von Produkten und Werbemodelle.

Ein besonderes Potenzial für den Handel im Metaversum bringt nach Einschätzung von PwC-Expertin Arnoldy und Hellmann-CCO Oestreich der 3-D-Druck mit sich. Kunden könnten sich beispielsweise anhand einer Vorlage ihre Wunsch-Sneaker virtuell designen, anprobieren und diese selbst über einen 3-D-Drucker im Laden um die Ecke oder gar in den eigenen vier Wänden ausdrucken lassen.

Nicht den Anschluss verlieren

Klar ist: Die Verschmelzung von physischer und virtueller Realität steht erst in den Startlöchern. Wohin uns die digitale Zukunft noch führen kann, zeigt unter anderem das englische Start-up Ultraleap mit der sogenannten „Mid-Air Haptics“-Technologie – virtuell fühlbare Gegenstände und Oberflächen per Ultraschall. Das mögliche Ziel: Den neuen Pullover im Onlineshop noch vor dem Kauf „anzufassen“, anstatt bloß auf die Produktbilder zu vertrauen. Auch die Anzahl von Retouren könnte erheblich reduziert werden.

„Unternehmen, die sich nicht um die Expansion ins Metaversum bemühen, werden vermutlich von der Konkurrenz abgehängt. Das könnte man mit Unternehmen vergleichen, die zu spät in den E-Commerce eingestiegen sind“, resümieren die Experten von KPMG. „Dementsprechend empfehlen wir, sich schon jetzt mit dem Einstieg ins Metaversum schrittweise auseinanderzusetzen, um nicht den Anschluss zu verlieren.“

Mögliche Konsumszenarien im Metaversum

Szenario 1: Eine physische Ware wird online oder stationär gekauft. Zusätzlich dazu wird ein digitales Abbild des Produkts für die Nutzung im Metaversum zur Verfügung gestellt. Dieses Szenario wird aktuell bereits umgesetzt. Gucci verkauft beispielsweise ein digitales Abbild der „Gucci Dionysus Bag with Bee“, ein limitiertes Avatar-Item, in der Metaversum-Spielplattform „Roblox“. Viele weitere Händler, insbesondere aus der Fashionbranche, verkaufen ihre Produkte auch in virtuellen Läden auf Metaversum-Plattformen, darunter Ralph Lauren, Nike oder Vans.

Szenario 2: Eine „digitale Ware“ kann ausschließlich virtuell im Metaversum genutzt werden. Auch dieses Szenario kann man bereits beobachten. Beispielsweise hat Coca-Cola eine Sammlung kryptografischer Objekte (NFT) versteigert, in der unter anderem digitale Kleidung enthalten war, die in der virtuellen Spieleplattform „Decentraland-Metaversum“ getragen werden kann. Diese Kleidung gibt es ausschließlich im Metaversum und nicht in der Realität.

Szenario 3: Eine physische Ware wird im Metaversum gekauft und dann nach Hause geliefert. An diesem Szenario arbeitet McDonald’s laut eigenen Aussagen aktuell und plant die Eröffnung von Restaurants im Metaversum. Als Zahlungsmittel soll dort Kryptowährung genutzt werden.

Quelle: KPMG

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