Logistikwissen zum Durchstarten

Boris Wehmann
Boris Wehmann
Führungskräftetrainer Boris Wehmann sieht die Entschlackung der Arbeitsprozesse von überflüssigen Tätigkeiten als dringend notwendig an.
© Privat
„New Work ist alles und nichts“
Von Frederic Witt

In den vergangenen Jahren hat sich die Arbeitswelt in der Logistik enorm gewandelt – zumindest, was die Rahmenbedingungen angelangt. Doch damit steht die Branche erst am Anfang eines dringend notwendigen Neuanfangs. Im Blue-Rocket-Interview spricht Führungskräftetrainer Boris Wehmann darüber, welche neue Grundlogik erforderlich ist, warum New Work kein Konzept für die Logistik ist und weshalb selbstbestimmtes Arbeiten so befriedigend ist.

Blue Rocket: Herr Wehmann, sie blicken sehr kritisch auf die aktuelle Arbeitswelt insbesondere in der Logistik. Welche grundsätzlichen Probleme sehen Sie in der Branche? 

Ganz konkret sehe ich zu wenig Innovation und Ideenreichtum. Die Unternehmensstrukturen sind in der Logistik oft noch sehr traditionell, wodurch viele Unternehmen sehr unflexibel sind. Flexibilität ist in der heutigen hochdynamischen Zeit aber extrem wichtig, um die richtigen Antworten zu finden. Die Märkte haben sich durch die Globalisierung maximal ausgedehnt, nun werden sie aber wieder enger. Traditionell aufgestellte Unternehmen finden auf die Fragen dieser Zeit nur selten oder sehr spät die richtigen Antworten.

Welche aktuellen Themen sorgen ihrer Meinung nach hier für große Probleme?

Der Krieg in der Ukraine sorgt natürlich für große Unsicherheit. Hinzukommen die gestiegenen Energie- und Treibstoffpreise. Lieferketten funktionieren nicht mehr so, wie es lange der Fall war. Auch der Fahrermangel spielt für immer mehr Unternehmen eine große Rolle. Eine solche Vielzahl an Problemfeldern hatten wir bisher nicht in der Branche und es fehlt an allen Ecken und Enden an Wissen.

Warum hat es die Logistik verpasst sich krisenresilienter aufzustellen? Gerade der Fahrermangel war ja seit langem absehbar.

Meiner Meinung nach war lange Zeit der Druck noch nicht groß genug. Es hat lange funktioniert, sich irgendwie durchzuwursteln. Dann wurden etwa polnische oder rumänische Lkw-Fahrer angestellt. Das hat das Problem aber nicht gelöst, sondern nur verzögert.

Es hat lange funktioniert, sich irgendwie duchzuwursteln – doch die Probleme sind nicht gelöst, sondern haben sich nur verzögert.

Wie kann sich die Branche denn in Zukunft besser aufstellen? In der Diskussion fällt oft der Begriff „New Work“. Was bedeutet das und wäre ein solcher Ansatz für die Logistik praktikabel?

Der Begriff „New Work“ wurde Ende der 1970er-Jahre von dem Sozialphilosophen Frithjof Bergmann geprägt. Für Bergmann bedeutete es einen Wandel der Arbeitswelt, der kapitalistische Arbeitsmodelle gewissermaßen ins Gegenteil umkehrt. Statt die Arbeit als Mittel zum Zweck zu sehen, rücken der Mensch und seine Bedürfnisse in den Vordergrund. Es geht um die Freiheit des Individuums. Verkürzt gesagt meint Bergmann, dass der Mensch erst dann frei ist, wenn er in der Lage ist, das zu tun, was er tun möchte. Was wir heute unter „New Work“ verstehen, hat damit meiner Meinung nach kaum noch etwas zu tun.

Was ist „New Work“ dann heute?

Es ist Alles und Nichts. „New Work“ ist ein Sammelbegriff geworden. Viele Punkte wie Agilität oder Purpose, also sinnerfülltes Arbeiten, wurden darunter gesammelt. Wenn ein Obstkorb im Büro aufgestellt wird, wird das schon als „New Work“ bezeichnet. Insgesamt also alles was man auch als „Feel-Good-Management“ bezeichnet. Mich stört das hier so viel gesammelt wird, was mit dem Ursprung gar nichts mehr zu tun hat. New Work Konzepte, zumindest in der Form, wie sie angepriesen werden, bezeichne ich auch gerne als Plastikmüll. Darüber hinaus sehe ich den starken Fokus auf die Mitarbeitenden kritisch. Es wird vergessen, wofür ein Unternehmen eigentlich gegründet wurde, also was der Unternehmenszweck ist. Und das ist zumindest in der Logistik niemals „Feel-Good-Management“. 

Wir sollten aufhören, unsere Mitarbeitenden durch unterschiedliche Benefits und Managementpraktiken wie anonyme Mitarbeiterbefragungen zu infantilisieren und aufhören, sie mit sinnloser Beschäftigung permanent von der Arbeit abzuhalten.

Was ist denn für Sie die bessere Alternative zu „New Work“?

Wir sollten bei unseren Überlegungen zu New Work den Menschen erst einmal außer Acht lassen. Das klingt natürlich erst mal kalt, ist aber unfassbar entlastend. Wir müssen uns wieder vor Augen führen, was der Unternehmenszweck ist und welche Tätigkeiten darauf einzahlen, lösen also Probleme der Kunden und des Marktes. Wir müssen unterscheiden zwischen den Arbeitsbereichen die gesteuert werden können und jenen, wo wir Könner:Innen brauchen, weil uns im Moment das Wissen fehlt, wir also nicht steuern können. So kommt man nachhaltig am Ziel an. Wir sollten auch aufhören, unsere Mitarbeitenden durch unterschiedliche Benefits und Managementpraktiken wie anonyme Mitarbeiterbefragungen zu infantilisieren und aufhören, sie mit sinnloser Beschäftigung permanent von der Arbeit abzuhalten.

Bei so einem Prozess müssen die Mitarbeitenden mitgenommen werden. Wie kann das gelingen?

Das halte ich für gar nicht so schwer. Wenn die Menschen merken, dass sie sinnvolle Arbeit machen und echte Probleme lösen, stellt sich die Frage gar nicht mehr. Jeder, der in einem neuen Unternehmen anfängt, hat zunächst eine intrinsische Motivation und möchte Probleme lösen und etwas bewirken. Sind die Mitarbeitenden dann aber einige Wochen oder Monate im Unternehmen, beginnt sich Frust breitzumachen. Denn sinnvolle Arbeit bleibt oftmals weitestgehend auf der Strecke. Stattdessen werden zum Beispiel Reports ausgefüllt.

Wie schnell kann ein kleines oder mittelständisches Unternehmen so einen Transformationsprozess umsetzen?

Ich möchte mir nicht anmaßen, das pauschal zu beantworten. Das kann eine Woche oder ein halbes Jahr dauern. Es kommt natürlich auf die konkrete Problemstellung im einzelnen Unternehmen an.

Von wo muss ein solcher Prozess gesteuert werden?

Das muss sich auf der absoluten Führungsebene abspielen. Es muss von höchster Ebene gewollt sein, da es nur funktioniert, wenn es in alle Bereiche auch konsequent hineingetragen wird. Würde man das etwa der HR-Abteilung überlassen, besteht die Gefahr, dass sich die oberste Ebene gar nicht selbst richtig damit auseinandersetzt. So funktioniert es nicht!

Sind Sie optimistisch, dass in der sehr traditionellen Logistikbranche ein solcher Wandel gelingen kann?

Tatsächlich bin ich gerade mit Blick auf den Mittelstand sehr optimistisch. Inhabern, also den echten Unternehmer:Innen, geht es um den Fortbestand des Unternehmens und sie nehmen Ihre Verantwortung den Mitarbeitenden und der Gesellschaft gegenüber sehr ernst. Sie wissen sehr genau, dass sich Prozesse in Unternehmen breitgemacht haben, die mit dem, wofür sie einst angetreten sind, nur noch teilweise etwas zu tun haben.  Wenn der bestehende Kreislauf aus permanenter Kostenoptimierung und sinnlosen Verwaltungstätigkeiten durchbrochen wird und es eine echte Chance gibt, wieder den Unternehmenszweck als Maß der Dinge zu nutzen, bin ich mir sehr sicher, dass es dafür eine große Offenheit gibt. Wir haben aber nicht mehr viel Zeit, das muss allen klar sein. Es ist aber noch nicht zu spät. Der Mittelstand wird die richtigen Antworten finden.

Man muss die Struktur so aufsetzen, dass Entscheidungen an der Peripherie zum Markt schnell getroffen werden können – und zwar von den Personen, die tatsächlich wissen, welche Antwort für eine bestimmte Problemstellung in dem Moment richtig ist.

Was muss konkret passieren?

Unternehmenstrukturen müssen dynamikrobuster ausgerichtet werden. Das bedeutet, dass wir verstehen, dass sich nicht alles steuern lässt. Steuerung setzt Wissen voraus. Ich muss also meine Unternehmenstruktur so ausrichten, dass die Prozesse, die gesteuert werden können, möglichst geräuschlos funktionieren. Für alles andere, wofür ich kein Wissen habe, muss ich die Struktur so aufsetzen, dass Entscheidungen an der Peripherie zum Markt schnell getroffen werden können. Von den Personen, die tatsächlich wissen, welche Antwort für eine bestimmte Problemstellung in dem Moment richtig ist. Mit Verlaub, es ist in der Regel weder die Geschäftsleitung noch die Inhaber:Innen. Also, Steuern, wo gesteuert werden kann, die Finger von Steuerungsversuchen lassen, wo Steuerung nicht möglich ist.

Gibt es andere Branchen oder konkrete Unternehmen die schon weiter sind und an denen sich die Logistiker orientieren können?

Es gibt einige Branchen oder auch einzelne Unternehmen, die hier als Vorbild genutzt werden können. Maschinenbau und Softwareentwicklung sind zwei Bereiche, auf die man schauen kann. Die Logistiker müssen es aber auch selbst wollen.

Ein aktuelles Problem ist der Fachkräftemangel in der Logistik. Wie kann die Branche wieder attraktiver für junge Arbeitnehmer werden?

Nachhaltigkeit ist hier das entscheidende Stichwort. Viele Menschen, die ins Berufsleben starten, wollen in ihrem Job einen positiven Beitrag gegen den Klimawandel leisten. Hier liegt eine große Chance für die Logistik. Unternehmen können Innovationstreiber für eine nachhaltige Wirtschaft werden und müssen das auch herausstellen. Unternehmen müssen glaubhaft klarmachen, dass sie sich nachhaltiger aufstellen wollen.

Passiert das nicht bereits?

Viele größere Unternehmen sind hier in der Tat schon sehr aktiv. Kleinere Logistikdienstleister sind aber oft noch nicht so weit.

Leidet die Branche nicht gerade beim Thema Nachhaltigkeit noch unter einem Glaubwürdigkeitsproblem?

Das ist wahr. Neben der Nachhaltigkeit gilt das auch oft noch für den Bereich Diversität. Hier müssen Unternehmen noch klarer und ehrlicher kommunizieren. Wenn ein Unternehmen bei diesen Themen noch nicht so weit ist, ist das gar kein großes Problem. Man muss aber klar aufzeigen, wie eine Weiterentwicklung möglich gemacht werden soll.

Welche weiteren Themen sind wichtig, um junge Fachkräfte zu gewinnen?

Die Unternehmen müssen in den Vordergrund stellen, wie wirksam die Arbeit insbesondere in der Logistik ist. Wie sehr es möglich ist, Einfluss auf die Transportketten zu nehmen und diese zu gestalten. Menschen möchten gestalten und Probleme lösen. Das sollten wir insbesondere den jungen Menschen ermöglichen.

Wir müssen aufhören zu diskutieren, ob Homeoffice und mobile Arbeit sinnvoll ist. Stattdessen sollte man ernsthaft über die Ausgestaltung der Arbeitszeit und der Entlohnungsmodelle sprechen.

Inwieweit hat die Pandemie die Probleme noch verschärft?

Mobiles Arbeiten ist für viele Mitarbeitende extrem wichtig geworden. Entsprechende Konzepte müssen Arbeitgeber künftig anbieten. Wir müssen aufhören zu diskutieren, ob Homeoffice und mobile Arbeit sinnvoll ist und stattdessen ernsthaft über die Ausgestaltung der Arbeitszeit und der Entlohnungsmodelle sprechen. Dabei sollten wir uns nicht an den Bedürfnissen der Mitarbeitenden oder der Handelnden Personen in den Unternehmen orientieren. Auch bei diesem Thema ist der Unternehmenszweck und die Wertschöpfung das Maß der Dinge.

Wie können die bestehenden Arbeitnehmer mitgenommen werden, die auch Angst vor Veränderungen in der Berufswelt haben?

Das ist eine ganz wichtige Frage. Mitarbeiter müssen in jeder Phase ihres Berufslebens weiter motiviert werden. Bei vielen Menschen stellt sich bei der Arbeit im Laufe der Zeit eine gewisse Frustration ein. Das muss verhindert werden. Viele Menschen wollen Verantwortung übernehmen, das muss ermöglicht werden. Wenn einem Mitarbeiter immer wieder neue Wege aufgezeigt werden, und wir einen Rahmen schaffen, der tatsächliche Übernahme von Verantwortung möglich macht, wird eine hohe Fluktuation zumindest verringert.

Wie wird sich die Logistik bis 2030 verändern?

In einer perfekten Logistikwelt wäre die Logistikkette im Jahr 2030 durch digitale Mittel optimiert. Durch die entsprechenden Antriebstechnologien in den einzelnen Sektoren sollten wir dann hoffentlich weitestgehend emissionsfrei sein. Das wird aber natürlich noch nicht komplett bis dahin gelingen können. Wir müssen aber schon große Schritte machen. Was ich mir vorstelle, ist, dass die Branche deutlich vernetzter sein wird. Vernetzter im Sinne von mehr symmetrischen Schnittstellen zwischen allen an der Lieferkette beteiligten Mitspielern. Ich gehe zudem davon aus, dass viele Produktionsstandorte aus Asien nach Europa zurückkehren und sich somit auch Transportströme verändern. Es wird sehr viel lokaler.

Das war die Wunschlösung. Ist es auch realistisch?

Nein. 2030 werden wir noch nicht soweit sein. Aber der Prozess wird dann bereits weit fortgeschritten sein.

Zur Person

Boris Wehmann hat rund 30 Jahre in und mit der Transportbranche in leitenden Funktionen gearbeitet. Zuletzt war er zwischen 2008 und 2021 als regionaler Chief Financial Officer für MSC (Container) tätig. Nach einer Ausbildung zum Berater für Organisationsdesign für agile Teams und Unternehmen wagte er den Schritt in die Selbstständigkeit und arbeitet heute als Unternehmensberater und Führungskräftetrainer im Bereich Future Leadership.

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